Was mit mir nicht stimmte

Ich kann meine Hände nicht ruhig halten. Ständig spiele ich mit ihnen herum, verknote sie, knackse mit den Knöcheln oder – wenn ich mich unbeobachtet fühle – fange ich an, mit den Händen zu flattern. Bin ich beobachtet, spiele ich stattdessen mit Kugelschreibern. Das tut jeder ab und an, aber bei mir ist es besonders intensiv.

Eines Tages kam ein junger Kollege zu mir und meinte, er könne mit dem Ringfinger flatternd auf den unteren Daumenknöchel schlagen. Er demonstrierte es mir, und ich fragte mich, woher er das hatte, denn schließlich flatterte ich selber auf diese Art und Weise mit den Händen, wenn ich alleine war. Aber ich zeigte ihm, dass ich es auch konnte. Um so überraschter war ich, dass ich feststellen musste, dass wir die einzigen in der Redaktion waren, die zu dieser Bewegung in der Lage waren. Dabei bin ich doch sonst nicht besonders gelenkig.

Schon als kleines Kind bin ich wie ein Tiger durch die Wohnung gelaufen, habe dabei eine Spielzeug-Maus an ihrem Schwanz herumgeschleudert und dabei Geschichten erzählt oder Musik oder Fernsehen imitiert – oder eben „Kassetten aufgelegt“. Zunächst in Anwesenheit meiner Eltern, dann – als sie es mir verboten hatten – wenn ich alleine war oder bei meinen Großeltern.

Im Kindergarten setzte sich das fort. Diesmal nahm ich den Plastikschlauch der Playmobil-Feuerwehr. In der Schule dann waren es Stöckchen, und ich verlegte die Aktionen in die Pausen. Dann rannte ich auf dem Schulhof herum, fuchtelte mit dem Stöckchen und imitierte Kassetten oder Radio. Manche Schulkameradinnen zerbrachen oft das Stöckchen, und ich suchte mir ein neues und machte weiter. Das tat ich nicht in jeder Pause. Aber da ohnehin kaum jemand mit mir spielen wollte, machte ich es immer öfter.

Die anderen Schüler machten sich über mich lustig. „Hier kommt der Kassettenerzähler“, hieß es. Ich wollte auch damit aufhören, aber ich brachte es einfach nicht fertig. Meine Eltern hatten es mir mehrfach verboten. Mein Vater drohte mir mit dem „Irrenhaus“. So nannte man damals umgangssprachlich noch die Psychiatrie.

Als ich dann auf das Gymnasium kam, beschloss ich, dass es keine gute Idee war, in den Pausen damit weiter zu machen. Ich verlegte meine derartigen Aktivitäten nach Hause. Immer wieder kam es vor, dass meine Eltern mich dabei erwischten. Eines Tages gab mein Vater mir ein Heft und sagte, ich solle immer, wenn das Bedürfnis mich überfiel, stattdessen in das Heft schreiben.

Seitdem ließ ich es bleiben. Aber nur die Imitationen. Mit dem Flattern machte ich weiter bis auf den heutigen Tag, und ich kann damit nicht aufhören. Immer wenn mein Kopf zu platzen droht und ich meiner Kreativität (wie ich es nannte) freien Lauf lassen muss, laufe ich flatternd durch die Wohnung, und durch meinen Kopf schießen Geschichten, alternative Geschichtsverläufe, alternative Verwaltungsstrukturen, Popsongs, die nie ein Mensch je gehört hat und nie ein Mensch hören wird, ganze Konzerte und Symphonien, Science Fiction-Settings – jede nur erdenkliche Idee von brillant bis absolut hirnrissig. Ich verfolge die Ideen, während ich den Bleistift herumschleudere und setze dann meine Tätigkeiten fort, als wäre nichts gewesen.

Jahrelang habe ich darüber geschwiegen, weil ich mir darauf keinen Reim machen konnte und weil mir eine solche Verhaltensweise bis heute überaus peinlich ist. Ich wusste, dass ich anders war als die anderen und dass dies ein wichtiger Schlüssel zu diesem Anderssein war. Auch mit Autismus konnte ich es mir bislang nicht erklären – bis ich las, dass manche Autisten ähnliche Verhaltensweisen verwenden, um sich selbst zu stimulieren oder um einen Overload abzubauen. Stimming nennt man das.

Ich fing an, im Internet danach zu suchen, aber einen Fall wie mich habe ich bislang bei der Recherche noch nicht gefunden. Meine Psychiaterin aber bestätigte mir, dass es sich wohl um eine (unbewusste) Strategie handelte, um Reizüberflutung abzubauen.

Ich und Autist? So ein Blödsinn!

Ich bin Journalist, Mitarbeiter, Kollege und Vorgesetzter. Ich bin Freund, Liebhaber und Partner. Ich bin Sohn, Bruder und Onkel. Aber bin ich auch Autist? Und somit behindert?

Ich weiß, diese Frage kann nur ein Experte nach einer langen Diagnose-Prozedur beantworten. Und doch habe ich sie innerhalb von sieben Jahren immer wieder selbst zu beantworten versucht und kam dabei immer wieder auf ein anderes Ergebnis.

Aber was würde es für mich bedeuten, wenn die Diagnose für mich fest stünde? Wenn ich Autist wäre? Oder wenn ich etwas anderes hätte? Es scheint, dass die Leser meiner Blogbeiträge ihre eigenen Meinungen dazu gebildet hätten. Und diese könnten unterschiedlicher kaum sein, wie die folgenden beiden Zitate zeigen:

Zitat Nr. 1: „Meiner Meinung nach bist Du regelrecht verliebt in die Idee, Autist zu sein. Du gefällst Dir als Autist.“

Zitat Nr. 2: „aus deinen Texten wird deutlich, dass -obwohl sehr vieles bei dir für Asperger spricht- du es nicht wahrhaben willst

Ja, was denn nun? Diese beiden Einschätzungen geben die Extrempole eines Spektrums wider, in dem sich meine Gedanken und Gefühle zum Thema Autismus bewegen.

Mir ist schon klar, dass das Leben kein Wunschkonzert ist und dass ich eben mit dem leben muss, was kommt. Nur, wie ich mit diesem Ergebnis am Ende umgehen werde, das weiß ich noch nicht. Wie ich zum Thema Autismus stehe, ändert sich fast täglich.

Am Anfang war die Sache für mich klar: Als ich das erste Mal vom Asperger-Syndrom hörte und was es bedeutete, erkannte ich mich darin wieder. Ich sah es zunächst relativ unemotional, aber von Anfang an war es ein zweischneidiges Schwert: Auf der einen Seite war ich darüber erleichtert, dass es eine Erklärung für mein Anderssein gab, auf der anderen Seite war ich erschüttert darüber, dass ich es nie im Leben würde ändern können, dass Autismus nicht heilbar ist, sondern dass ich den Rest meines Lebens damit würde umgehen müssen.

Diese Ambivalenz des Themas hat mich bis heute begleitet. Ich setzte mich intensiv mit Autismus auseinander, identifizierte mich stellenweise sehr stark damit, weil es so viel meiner Persönlichkeit erklärte. Es gab Phasen, in denen ich mich mit nichts anderem beschäftigte und es gab Phasen, in denen ich alles verdrängte und am liebsten nichts von Autismus wissen wollte.

Über das Internet lernte ich vor vielen Jahren eine Autistin kennen. Wir trafen uns dann auch persönlich. Es ist bislang die einzige Autistin, zu der ich auch persönlichen Kontakt hatte. Ich weiß nicht warum, aber die Begegnung triggerte mich so sehr, dass ich danach tagelang in den sprichwörtlichen Seilen hing und mir klarzumachen versuchte, dass ich kein Autist war, weil ich kein Autist sein wollte. Doch meine Bekannte war klar anderer Meinung. Sie sagte, ich sei ganz sicher autistisch.

Dann gab es aber auch Momente, in denen ich vom Phänomen Autismus einfach fasziniert war – in denen ich entdeckte, dass ich zu Dingen in der Lage war, die meine Mitmenschen nicht konnten, dass ich viele Dinge anders sah oder anders wahrnahm als sie. Oder Momente, in denen ich von Erfolgsgeschichten von Autisten las, in denen ich mich mit den Filmen von Tim Burton beschäftigte oder mit Sherlock Holmes beschäftigte, in denen ich dachte: Autismus ist doch cool.

In den vergangenen Monaten gab es dann immer wieder Phasen, in denen ich am liebsten alles hinschmeißen wollte. Ich Autist? So ein Blödsinn! Ich wollte den Twitter-Account und meinen Blog löschen (hatte es sogar schon getan) und mich mit anderen, angenehmeren Dingen beschäftigen. Doch ich wusste: Das Thema würde mich nicht los lassen.

Jetzt ist es wieder ähnlich. Die Autismus-Thematik ist für mich gerade eher ein Bremsklotz an meinem Bein. Ich möchte fast schreien: „Ich bin kein Autist und will es auch nicht sein.“ Es läuft doch zur Zeit alles so gut. Bei meiner Arbeit darf ich interessante Projekte realisieren und bekomme dafür viel Lob von Kunden, Protagonisten, Adressaten und Kollegen.

Auch im Privatleben läuft alles optimal. Ich bin in einer harmonischen Zweier-Beziehung – eine Erfahrung, die für mich in dieser Intensität völlig neu ist. Warum muss ich mich also unbedingt mit Autismus befassen? Ich merke sogar, dass das Thema mich stark belastet, wenn ich darüber mit meiner Freundin rede. Sie ist nicht Autistin und hat auch wenig Ahnung vom Thema, aber ich habe ihr wegen meiner Psychiatrie-Termine, die ich habe, von meinem Autismusverdacht erzählt, und sie wollte Genaueres wissen. Also erzählte ich davon und kam mir dabei so seltsam vor. Ich weiß nicht, was für ein Gefühl es war, aber es war kein gutes. Es belastete mich.

Also, warum mache ich mir überhaupt die Mühe mit Sprechstunden, Therapeutensuche, Diagnosetermin im Oktober und auch mit Bloggen und Austausch mit Autisten? Warum gebe ich zu meinem positiv verlaufenden Leben noch dieses schwere Thema mit hinzu und lasse es nicht einfach bleiben?

Weil die nächste Krise garantiert kommt. Wenn meine Freundin mit mir Schluss macht oder wenn es wieder Probleme am Arbeitsplatz gibt. Weil ich dann wissen will, wie ich aus dieser Krise wieder herauskommen, wie ich mit meinem Leben etwas anfangen, wie ich eine neue Partnerschaft finden oder Probleme am Arbeitsplatz lösen kann.

Wenn ich weiß, ob Autismus die Wurzel meiner Probleme ist oder ob es eine andere Ursache gibt, kann ich vielleicht besser damit umgehen, solche Krisen besser bewältigen.

Aber die Frage war ja: Fühle ich mich behindert? Oder anders: Fühle ich mich autistisch? Derzeit ehrlich gesagt nicht. Aber ich weiß, dass wieder andere Zeiten kommen werden, in denen alles wieder hoch kommt. Und beim nächsten Mal wäre ich gerne gerüstet – unter anderem mit dem Wissen, was wirklich mit mir los ist. Vielleicht kann ich dann besser damit umgehen. Darauf kommt es mir bei der Diagnose an. Und auf nichts anderes.