Über die Höhen und Tiefen nach der späten Diagnose

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„Manchmal wünsche ich mir, ich hätte niemals von meinem Autismus erfahren.“
(Holger K., spätdiagnostizierter Asperger Autist)

Wenn man erst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter die Diagnose Asperger erhält, dann kann es einem schon manchmal irgendwie ein bisschen so vorkommen, als hätte das Leben sich einen Scherz erlaubt und würde einem nun – sozusagen als „beinahe- Greis“ die Auflösung präsentieren und damit die Gelegenheit geben, sein komplettes Leben noch einmal Revue passieren zu lassen und es nun aus einem völlig anderen Blickwinkel zu betrachten.
Von diesem Blickwinkel aus erklären sich nach und nach viele Situationen, die man früher einfach nicht verstehen konnte.
In meinem Leben sind ziemlich viele Dinge geschehen, die ich eigentlich nie so richtig verstanden habe und die sich erst durch das Wissen um mein Asperger Syndrom Stück für Stück erklärt haben.

So gesehen hat es mir die Diagnose ermöglicht, mit vielen Erfahrungen und Erlebnissen der Vergangenheit meinen Frieden zu schließen- zumindest so halbwegs. Und das ist ja schon mal was wert.

Aber was für mich eigentlich noch viel wichtiger ist, das ist die Tatsache, dass ich jetzt endlich die Gewissheit darüber habe, dass ich mit meiner Art der Wahrnehmung kein einzelner kranker Freak bin, sondern dass es da draußen noch jede Menge andere Erdlinge gibt, die ebenfalls ganz schlicht und ergreifend ein anderes Betriebssystem im Gehirn haben als das Heer der NT´s (neurologisch typischen) .

Nach der Gewissheit durch die Diagnose hatte ich dann auch erst mal – wie wohl die Mehrheit der Spätdiagnostizierten-eine richtig Hoch- Phase, in der ich mich vollständiger gefühlt habe als jemals zuvor und mich eigentlich nur noch mit Asperger beschäftigt habe. Dieses Hoch hielt bei mir erst mal über ein Jahr lang an. Wenn man sich nahezu jeden Tag mit Asperger beschäftigt und sich im Internet mit anderen Autisten vernetzt, dann kann man sich irgendwann nur noch ganz schwer vorstellen, dass die Mehrheit der Menschen da draußen überhaupt nix von dem Asperger Syndrom weiß. Wenn man mit dem Thema Asperger nicht in irgendeiner Form zu tun hat- sei es als „Betroffener“, Angehöriger oder sonst jemand, der in Beziehung zu diesem Menschen steht, dann ist es für gewöhnlich so, dass man sich auch nicht großartig mit diesem Thema beschäftigt.

In einer nichtautistischen Welt zählt Asperger ganz einfach nicht zu den Top- Themen und die Zahl der Menschen, die sich „einfach so“ aus Interesse mit AS beschäftigen, ist verschwindend klein.
Wenn der Durchschnitts- „Normalbürger“ tatsächlich mal etwas zum Thema Asperger bei Erwachsenen mitbekommt, dann sind es meist Filme wie Rainman oder Berichte über Savants- wie zum Beispiel Daniel Tammet, der innerhalb von fünf Stunden bei einem Gedächtniswettbewerb 22.514 Nachkommastellen der Kreiszahl Pi referierte und innerhalb einer Woche die isländische Sprache so sicher erlernte, dass er in dieser Sprache ein Interview geben konnte.

Dadurch entsteht bei der Bevölkerung so ein bisschen der verzerrte Eindruck, Asperger Autisten seien ein seltenes „Völkchen“ von Sonderlingen, die allesamt über Talente verfügen wie zum Beispiel mal eben das Telefonbuch von Berlin auswendig zu lernen oder sämtliche Zugstrecken von Deutschland aufsagen zu können, die aber ansonsten eher alltagsuntauglich sind und in ihren abgedunkelten Zimmern hocken.

Und so kann es einem schon mal passieren, dass man- wenn man sich als Asperger outet- angezweifelt wird.
„Was? DU? Ein Autist??? Das kann nicht sein…ich hab da schon mal einen Film/ Bericht gesehen… die sind ganz anders.“

Es ist anstrengend, immer wieder den Menschen da draußen erklären zu müssen, dass Asperger Syndrom nicht bedeutet, ein Savant zu sein und dass die Zahl der Savants verschwindend klein ist.

Es ist anstrengend, immer wieder zu erklären, dass ein Spezialinteresse etwas anderes ist als eine Inselbegabung und dass das enorme Wissen, dass die meisten Asperger auf dem Gebiet ihres Spezialinteresses angehäuft haben, einfach nur daher rührt, dass sie sich eben intensivst mit diesem Thema beschäftigen.

Es ist anstrengend, immer wieder zu erklären, dass Asperger keine Krankheit ist, die man irgendwie wieder „wegmachen“ kann, sondern eine andere Art der Wahrnehmung, die man das ganze Leben lang hat und gegen die es keine Pillen gibt.

Und es ist anstrengend zu sehen, wie wenig dann trotz aller Erklärerei bei den meisten „normalen“ Menschen „hängen bleibt“ und dass sie ohnehin nicht nachvollziehen können oder wollen was es bedeutet, eine andere Form der Wahrnehmung zu haben.

Vielen von diesen „normalen“ Menschen reicht schon eine Schublade aus, in die sie alles stecken können, was von ihrer Norm abweicht.

Den passendsten Begriff hat hier für mich Dr. Manfred Lütz in seinem Buch „Irre- wir behandeln die Falschen- unser Problem sind die Normalen“ aufgegriffen (oder bzw. wiederbelebt), der eigentlich bereits in den 80ér Jahren geprägt wurde: Die NORMOPATHEN.
Unter Normopathie versteht man eine Persönlichkeitsstörung , die sich in einer zwanghaften Form von Anpassung an vermeintlich vorherrschende und normgerechte Verhaltensweisen und Regelwerke innerhalb von sozialen Beziehungen und Lebensräumen ausdrückt.
Die Normopathen sind da draußen dicht gesät- und wo sie gehen und stehen,hinterlassen sie ihre Spuren und denken, sie wären das Maß aller Dinge- eben weil es so viele von ihnen gibt.
Das Leben unter all den Normopathen ist extrem anstrengend und laugt aus. Und ich muss sagen, dass ich es seit meiner Diagnose stellenweise noch sehr viel anstrengender empfinde als in all den Jahren vorher.
Das da draußen ist nicht „meine Welt“- alles ZU viel, ZU schnell, ZU laut, ZU chaotisch, ZU oberflächlich.
Neulich hatte ich ein Gespräch mit Holger- ebenfalls spätdiagnostizierter Asperger. Im ersten Moment war ich sehr schockiert von seiner Aussage „Manchmal wünsche ich mir, ich hätte niemals von meinem Autismus erfahren.“
Ich persönlich bin schon froh , dass ich endlich darüber Bescheid weiß, wodurch sich mein ANDERS- sein erklärt- aber es wird wohl immer so eine Art Hassliebe sein. Manchmal bin ich richtig glücklich mit meiner Wahrnehmung.
Aber manchmal habe ich auch Phasen, in denen mich das alltägliche Leben mit den ganzen „normalen“ Menschen um mich herum so dermaßen anstrengt, dass ich das Gefühl habe, mich aufzulösen.
Phasen, in denen ich das Gefühl habe, dass sich durch mein Wissen um mein AS die Symptome um ein Vielfaches verstärkt haben.
Phasen, in denen ich einfach nix mehr von AS hören kann.
Und auch wenn ich Holgers Meinung nicht teile, so kann ich in diesen Zeiten schon irgendwie verstehen, was er meint.

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4 Kommentare

  1. Spätdiagnostizierte haben – wie hier aus meiner bescheidenen Sicht – eine reifere Art (spätere, komplexere Selbstreflexion) im Umgang mit (Asperger-)Autismus.
    Der Blog-Artikel überzeugt aus meiner Sicht durch eine Portion Schonungslosigkeit gewürzt mit menschlicher Güte.
    Besonders wertvoll finde ich den Hinweis auf die „Neuropathen“. Ein Begriff, der mir so gut gefällt, dass ich ihn am liebsten selbst ins Leben gerufen hätte. Das sonst so verniedlichend verwandte „neurotypisch“ verharmlost die oft generalisierte Verschlichtung intellektueller Betrachtungsweisen mit allen gesellschaftlichen Folgen vor allem auf politischer Ebene. (Resultat ist Beeinflussungs- und Beschwichtigungspolitik, eine weiche Form der Propaganda (subtil) zur exogenen Willensbildung, ohne dass der Betroffene die Inhalte und Folgen nachhaltig hinterfragt.)
    Leider überschneidet sich der Begriff „Neuropath“ mit Begrifflichkeiten der Schmerztherapie („neuopathischer Schmerz“). Der Neuropath beweist leider sehr oft, dass Doofheit nicht weh tut („neuropathisches Paradoxon“), ansonsten würde er endogen operant-konditionell zu Vernunft gezwungen werden.

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    • Fast ein Jahr später führt es mich auf diesen Beitrag zurück.
      Etwas erschüttert hat mich, dass ich aus dem „Normopathen“ einen „Neuropathen“ gemacht habe und davon ausgehe, dass der Blogartikel schon damals so bestanden hat.
      Meine Ausführungen zum „Neuropathen“ (den ich von „neurotypisch“ abgeleitet habe) haben trotzdem Bestand.

      Der Begriff „Normopath“ ist ein wunderbarer Begriff, der schon in wenigen Buchstaben kodiert den Hang zum „kategorischen Pathologisieren“ beschreibt.

      Aus meiner Sicht ist es jedoch wichtig, nicht nur die Schwächen eines Asperger-Autisten in den Vordergrund zu schieben und zu rechtfertigen (durch Druck von außen), sondern sich verstärkt auf seine besonderen Stärken zu fokussieren.
      Seit kurzer Zeit nehme ich in Berlin an Asperger-Gesprächsgruppen teil und finde diese Nische an Individuen wohltuend anders. (viele von ihnen fallen von weitem überhaupt nicht auf, obwohl sie „zertifiziert“ sind)

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  2. Genauso ist es! Ich war nach meiner Diagnose im Alter von 46 Jahren erleichtert, weil sich vieles erklärt hat. Ich war plötzlich nicht mehr einfach „zu blöd für alles“, es hatte einen Grund, warum ich so war. Ich war traurig über alles, was in meinem Leben bis dahin wirklich falsch gelaufen ist, was mich schon als Kind stark überfordert hat, aber auch stolz über alles Positive, was ich seither mehr und mehr an mir entdecke. Und gleichzeitig ist es immer noch sehr schwierig und entmutigend, doch oft an Grenzen zu stoßen und mit dem Anderssein klar zu kommen.
    Vielen Dank für deine treffenden Worte.

    Gefällt 2 Personen

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